Das Phänomen der Superlative
– wenn es kein Normal mehr gibt, wird Normal das neue Mega
Es ist euch sicher auch schon aufgefallen: nichts ist mehr normal. Ich meine damit gar nicht den täglichen Wahnsinn, der uns alle seit Jahren umgibt. Nein, ich meine: normal Normal.
Deutschland hat seine Supermodels, seine Superstars und seine Starköche. Jeder Song im Radio ist ein Megahit. Jeder Schauspieler ist Megastar. Jeder Regen wird zum Orkan, jedes Unwetter zum Jahrhundertsturm. Jede Gründungsidee ist disruptiv und StartUp taugt erst was, wenn es Unicorn werden will. Das Universum ist zu klein, also auf, auf ins Metaversum.
Früher gab es Musiker, Singer, Songwriter, manchmal Idole, nur wenige Stars und vor allem ganz wenige Superstars – da musstest du schon 40 Jahre auf der Bühne stehen, so wie Frank Sinatra, Ray Charles oder die Rolling Stones. Heute reicht ein selbstgedrehtes, absurdes Video auf tiktok, 1 Million Follower auf instagram und du bist GOAT (Greatest of all time). Krass. Krasser. Am krassesten. Am mega-noch-krasser-krassesten?
Was bin ich doch für eine Wurst. Umgeben von Superlativen, die täglich größer werden. Selbst wenn ich glaube, mit dem Alter innerlich zu wachsen, versucht die Welt mich jeden Tag ein wenig kleiner zu machen. Aber immer dann, wenn ich mich so klein fühle wie Arthur bei den Minimoys, passiert etwas wundervoll Normales: ein stiller Sonnenuntergang, den ich auf der Wiese sitzend neben meiner Frau genieße. Oder meine Tochter, die auf dem Weg zu ihrem Freund an mir vorbei huscht und mir ein „Ich liebe dich“ zuwirft. Ob es Metallicas „Nothing else matters“ im Radio ist, das mich an mein erstes OpenAir-Konzert erinnert oder das Geräusch von knisterndem Holz im Feuer, bei dem ich schlagartig wieder 10 Jahre alt bin bei der ersten Nachtwanderung der Pfadfinder… --- So normal ist so besonders. Ob unsere Kinder das noch wissen? Ob sie es erkennen, schätzen, lieben? Vielleicht müssen wir ihnen dabei ein wenig helfen. Denn in dieser zunehmend vernetzten, digitalen Welt will anscheinend keiner mehr normal sein. Normal ist langweilig, uninteressant, öde.
Die Medien, allen voran Social-Media, holen Themen und Menschen aus der Belanglosigkeit ins Scheinwerferlicht. Für die berühmten „15 minutes of Fame“ sind sie bereit, alle Hüllen fallen zu lassen (im Fernsehen sogar im wahrsten Sinne des Wortes). Talentfreiheit, gepaart mit Selbstbewusstsein und einem ausgeprägten Hang zum Exhibitionismus helfen anscheinend ungemein, um den kommerziellen Karren, vor den man sich spannen lässt, als nicht allzu unangenehm zu empfinden. So geben die Stars von heute mit 20 oder 25 Jahren ihre auswendig gelernt erscheinenden Philosophien und Lebensweisheiten an ihre Follower weiter und werden dafür gefeiert. Der grelle Spot des Superlativs macht aus dem Schatten der Maus einen Elefanten. So lange, bis die Maus selber glaubt, ein Elefant zu sein.
Gab es dann schon vor Social Media? Sicher, aber dennoch anders: Als ich jung war, hat man so manches Talent mehr oder weniger unfreiwillig vor die Kamera und in die Öffentlichkeit gezogen. Musiker wie Joshua Kadison (1994 No1.-Hit „Jessie“) oder Curtis Stigers (1991 Top10-Hit „I wonder why“, 1992 „All that matters to me“) beide extrem talentiert - um nur zwei X-beliebige von einer großen Zahl von Menschen zu nennen. Sie konnten mit dem Rummel um ihre Person nicht besonders gut umgehen. Joshua Kadison hat sich vor rund 15 Jahren komplett aus dem Musikbusiness zurückgezogen. In einem seiner letzten Interviews sagte er: „Wenn die Raupe in ihrem Kokon bleibt, kann nie ein Schmetterling aus ihr werden“. Er meinte damit, dass er sich in seiner Rolle als Musiker nicht mehr weiter entwickeln kann. Also wollte er lieber Mensch sein, statt Musiker. Curtis Stigers macht heute Jazz-Musik und tritt vor ein paar Hundert Zuschauern auf. Er hat den kommerziellen Erfolg seiner sehr erfolgreichen Popballaden gegen die Leidenschaft zur Musik getauscht. Geld verdienen spielt dabei eine Nebenrolle. Damit ist er für die Medien unbrauchbar, denn seine Selbstverwirklichung findet fernab von Superlativen statt.
Ich erkenne ein Muster: Es scheint, je größer das Talent, umso schwieriger, der Umgang mit dem Ruhm und dem Erfolg. Damals wie heute.
Ein weiteres Muster ist „Purpose“ oder Ikigai – das, wofür es sich zu Leben lohnt. Greta Thunberg, Generations-Ikone mit erkennbar autistischen Zügen, scheint so etwas wie der Antipol des Superlativs. Gestartet mit der Botschaft und dem unbedingten Willen der Berufung schafft sie es, mit der Grassroots-Bewegung „Fridays for Future“, weltweite Aufmerksamkeit zu erlangen. Hier haben sicher die sozialen Medien einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet. Dennoch bleibt zu bemerken: wenn der Purpose stärker ist, als der Wunsch, im Rampenlicht zu stehen, kann das Individuum Ruhm und Erfolg vielleicht besser verarbeiten. Denn öffentliche Aufmerksamkeit ist dann Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck.
Ich persönlich verwende Superlative extrem selektiv. Ich bewahre sie mir auf für die wirklich großen Momente, Erfahrungen und Gefühle im Leben. In denen das Normale für einen Moment fast aus Versehen in das Scheinwerferlicht des Superlativs gerät, um sich gleich darauf wieder in den Schatten des Unbemerkten zurückzuziehen, bevor die Welt es wirklich wahrnimmt. Ich möchte meine Normalität ganz für mich und meine Lieben bewahren, denn nur so ist und bleibt sie etwas Besonderes. Der Glanz des Superlativs entwertet den Zauber solcher Momente und Ereignisse, indem er sie hochstilisiert und mit der Welt teilt. Ich glaube, das wahrhaft Große ist unvollkommen und findet im stillen, ruhigen Schatten der Normalität statt. Dort, im Schatten, ist es egal, ob du Maus oder Elefant bist. Man erkennt die wahre Größe der Persönlichkeit am Sein, nicht am Schein.
Will ich also GOAT (Greatest of all time) sein? Auf keinen Fall. Ich will GOD – the Good Old Days! Etwas leiser, etwas sachlicher, etwas mehr Talent und etwas weniger Show. Wenn das alte Normal zum neuen Mega wird, gibt es keine Steigerung mehr für die herausragende Momente und Ereignisse im Leben von Menschen. Anders gesagt: wer sein Leben im Scheinwerferlicht der sozialen Medien 24 Stunden am Tag inszeniert, stilisiert sein Leben zum Superlativ und verpasst die Chance, glücklich zu sein in den Momenten vermeintlich banaler Normalität. Vielleicht hilft da eine Portion Heinz Ehrhardt: „Gestern war alles gut. Heute ist alles besser. Wäre besser, es wäre wieder alles gut!“.
Nennt mich Old School, aber eins ist sicher: Im stillen Mikrokosmos meiner Normalität verbirgt sich das vollkommene Glück!
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